Es regnete.
Zumindest etwas, das dieser Tage in Gilneas zur Normalität gehörte.
Die Stiefel des Mädchens patschten durch die Pfützen, die noch nicht ihren Weg in die Kanäle gefunden hatten und die grünen Augen eilten suchend durch die Umgebung. Neben ihr lief der hellgraue Mastiff, eher treu als nützlich und sah das Gehetze durch die Straßen offenbar als Spaziergang der anderen Art an.
Dok Ebdon war nicht daheim gewesen, die Praxis war verwaist und dunkel, von den Nachbarn hatte niemand aufgemacht, geschweigedenn, dass sie gewusst hatten, wo der Dok sich derzeit befand.
Und dabei brauchten sie doch ums Verrecken einen Arzt.
Verdila war am Vortag mit einer Bisswunde am Bein heimgekommen. Wirres Zeug hatte die Jüngere gefaselt von einem gewaltigen Monster, langen Klauen und riesigen Zähnen, das sie angefallen hatte, allerdings von ihr abließ und verschwand. Aufrecht wie ein Mensch solle es gegangen sein und Überreste von Kleidung am Leib getragen haben.
Schwachsinn, vermutlich war es nur ein streunender Mastiff gewesen oder ein Worg. Doch was auch immer es gewesen war, die 12-jährige war wärend der Nacht einem heftigen Fieber unterlegen, hatte Alpträume, wenn sie schlief und wandt sich in Schmerzen, wenn sie wachte.
Fast panisch hatte die Mutter schließlich den Dok holen wollen, doch Ameley hatte sich den Köcher mit Pfeilen, sowie den Bogen des Vaters gegriffen und war zur Tür hinausgeeilt, noch ehe sie hätte aufgehalten werden können.
Seit die mysteriöse Mordserie begonnen und zugenommen hatte, war eine Frau, deren Lebensinhalt darin bestand zu kochen und zu putzen des Nachtens in den Gassen noch schlechter aufgehoben, als ihre 16-jährige Tochter.
Und Vater war seit etwa zwei Wochen spurlos verschwunden.
Als Teil einer Wacheinheit, die sich um die Untersuchung der Morde zu kümmern hatte, war Brenold Maceál eines Tages nicht mehr von seiner Patroullie zurückgekehrt. Drei weitere Männer seiner Einheit ebenfalls.
Was auch immer Vorgefallen war, sie würden nicht auch noch Verdila verlieren.
„Such doch den Dok, du blöder Hund... such!“ giftet Ameley von oben auf den Mastiff herab, ehe sie um die Ecke bog und hart einen Passanten striff der in einen dicken Regenumhang gehüllt war. Eine Entschuldigung nuschelnd, fuhr sie herum, um zu schauen, wen sie da über den Haufen gerannt hatte.
„Pass doch auf!“ patzte der Fremde, ehe ein böser Blick Ameley traf und die Gestalt weiter eilte.
Nicht ungewöhnlich dieser Tage, dass die Leute gereizt reagierten, dennoch fluchte sie dem Mann noch hinterher, dass ihre Mutter längst die Seife gezückt hätte, um ihr den Mund auszuwaschen.
Trotz ihrer aufkeimenden Wut hatte sie der Aufprall zum Stehenbleiben veranlasst.
Von irgendwo jenseits der Kathedrale waren Schüsse zu hören. Schüsse, wie sie schon den ganzen Abend ertönt waren, immer mal wieder in unregelmäßigen Abständen.
Noch war das eher unwichtig. Im Händlerviertel, wo ihr Haus stand, war es den ganzen Abend ruhig gewesen, abgesehen von ein paar unerkenntlichen Schemen von Leuten, die ab und an in einer Seitenstraßen verschwanden. Nachteulen und Tagediebe, die sich sonst am Platz aufhielten, und die angesichts der Schusswechsel in den besser gestellten Händlerdistrikt flohen, waren nichts ungewöhnliches. Wer war schon gerne dort, wo Rückstände der Rebellen zusammengetrieben wurden?
Sie wandte den Blick gen Himmel und wanderte im Geiste abermals das Gassennetzwerk von Gilneas ab und strich jene ab, die sie bereits durchsucht hatte.
Doktor Ebdon war nirgends gewesen, weder in den beleuchteten Häusern, noch hatte sie sein Pferd irgendwo stehen sehen.
Es hatte vor kurzem erst zur elften Stunde geläutet und sie stand abermals vor dem Haus des Arztes, das nach wie vor leer und dunkel vor ihr lag. Einmal mehr wurde die Tür mit den Fäusten bearbeitet und zu den Fenstern hinaufgerufen, doch nichts rührte sich, abgesehen von dem Regen, der stetig und ungnädig auf sie hinabfiel.
Selbst der Gang zur Wache hatte ihr nichts eingebracht, denn dort hatte man ihr mitgeteilt, dass entgegen aller Hoffnungen, ihr Vater noch nicht wieder aufgetaucht sei. Was hatte sie auch erwartet? Wunder gab es nicht, genau so wenig, wie einen verdammten Arzt in Reichweite.
Im Augenblick blieb ihr lediglich noch übrig, heimzukehren und nachzusehen, ob das Schicksal den Arzt an ihrem Zuhause vorbeigetrieben hatte und er ihre Schwester womöglich schon behandelte. Eine Schwache Hoffnung, aber die einzige Alternative wäre gewesen, in die Richtung der Schüsse zu laufen und dort nachzusehen. Und wenn der Dok dort war, hatte er sicherlich andere Sorgen, als ein Kind mit Fieber.
Die Haare, das Gesicht und die Kleidung durchnässt vom Regen, wandte sie sich wieder dem bulligen Mastiff an ihrer Seite zu.
„Toadwart, komm“.
Die Suche aufzugeben, schickte ein Gefühl von Müdigkeit durch ihre Glieder. Es mussten Stunden vergangen sein, seit sie sich auf den Weg gemacht hatte. Mit dem widerwärtigen Gefühl, versagt zu haben, trottete sie durch die nassen Straßen zurück, den Blick gesenkt und den Bogen geschultert.
Hätte sie aufgesehen, wäre ihr vielleicht die Leere der Straßen aufgefallen, die trotz des strömenden Regens und der späten Stunde ungewöhnlich vorangig herrschte, dafür, dass sie eines der am meisten bewachten Viertel von Gilneas betrat. Ebenso wäre ihr der breite Streifen Licht aufgefallen, der sich aus der Tür ihres Hauses, über die Straße ergoss.
Die Tür stand offen, Ameley blieb davor stehen, starrte in den Eingangsflur ihres Zuhauses.
Sie stand da und starrte, während ihr Verstand zu begreifen versuchte, was an diesem Bild nicht stimmte. Das Bild einer sich im Wind wiegenden Tür, und ein Hausflur dahinter, dessen Beleuchtung sich in einer nassen Spur aus tiefem Rot wiederspiegelte, die sich von der Schwelle um die Ecke zum Wohnraum zog.
Toadwart neben ihr fiepte und trat unruhig auf der Stelle.
Während ihr Verstand noch versuchte, den unvorhergesehenen Moment zu verarbeiten, langten die zitternden Finger ihrer linken Hand in den Köcher mit Pfeilen, zogen einen heraus und spannten ihn in die Sehne des Bogens.
Sie trat über die Schwelle, den Bogen halb gespannt und Toadwart an ihrer Seite, der die Nase auf den Boden legte, und das Blut, das sie als solches erkannte, aufzulecken begann.
Nach und nach schob sie sich vor. Schweiß trat auf ihre Stirn und Hände, in der Angst vor dem, was sie sehen würde, sobald sie der Spur um die Ecke gefolgt war.
Sie hielt inne, den Mund halb geöffnet und zitternd nach Luft ringend, während eine Anzahl an Geräuschen an ihr Ohr drangen. Laute, als ob Stoff zerrissen würde und darunter gemischt ein Knacken. Die bebenden Lippen schlossen sich und Ameley schluckte hart den sich bildenden Kloß im Hals und überwandt den Impuls, sich umzudrehen und in Panik die Flucht zu ergreifen.
Irgendetwas war hier drin, zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter, und sie musste wissen, was das war.
Mit ihrem ganzen Mut, trat sie den letzten Schritt vor und richtet den Pfeil in den Wohnraum, erbleichte bis zur Gänze des Möglichen, noch bevor sie vollkommen begriff, was sie dort vor sich hatte.
Ihre Mutter lag auf dem Boden, die Kaskade ihres blonden Haares erstreckte sich über die polierten Dielen, bis über den Fellteppich, der vor dem Kamin auslag. Die blauen Augen in ihrem nur langsam gealterten Gesicht, starrten leer an die Decke. Ameleys Blick löste sich von den nur leicht geöffneten Lippen und blieben an dem hängen, das unterhalb des Halses lag. Dort, wo der Brustkorb hätte sein müssen, klaffte ein Loch, aus dem sich Rippen hervorreckten, wie blutige Finger, die von Fetzen lose herabhängenden Fleisches verbunden wurden. Die Arme der Frau lagen lang ausgestreckt seitlich neben ihr, die rechte Hand streckte sich dem Mädchen entgegen. Der Boden um den leblosen Körper herum, war getränkt von Blut, in dem sich die Flammen des Kamins zu einem bizarren Tanz wiederspiegelten.
Doch das Grauenerregenste war das, was über ihrer Mutter aufragte, seine linke Pranke auf deren Oberschenkel abgelegt hatte und weitere Fleischfetzen aus der Bauchhöhle des Körpers riss.
Ein Wesen, wie es dem Alptraum von Kindern und den Sagen und Legenden der Älteren entsprang, wie sie früher am Kaminfeuer erzählt wurden, um der jüngeren Generation die Angst davor einzubläuen, sich nach Anbruch der Dunkelheit noch Draußen aufzuhalten.
Ein Wesen, wie Verdila es vor einer gefühlten Ewigkeit beschrieben hatte.
Ameley wich lautlos ein paar Zentimeter zurück, während Panik in ihr aufstieg. Doch noch bevor die auch nur einen halben Schritt hätte tun können, drang ein, wie sie empfand, ohrenbetäubendes Winseln an ihr Ohr, als der Mastiff an ihrer Seite die Idee mit der Panik aufgriff und jaulend in die Nacht verschwand.
Es hätte weniger bedarft, um die Aufmerksamkeit der Monstrosität auf Ameley zu lenken, die nun aufschaute, jedoch noch überrascht wirkte und daher über dem Leichnahm der Mutter verharrte.
Ameley spannte die Sehne und wollte den Pfeil in die Schnauze des Monsters jagen, ehe etwas an diesem Anblick sie erstarren ließ.
Von Armen und Brustpartien hing in Fetzen etwas, das sie als das rote Kleid erkannte, das Verdila getragen hatte, als sie sie im Bett liegend zurückgelassen hatte.
Ameley ließ den Pfeil mit bebenden Händen sinken, starrte das worgähnliche Monster nur an, das mit seinen dunklen Augen über der bluttriefenden Schnauze zurückstarrte.
Es gab Gerüchte, Sagen, Legenden über Menschen, die sich nach Bissen in Monster verwandelt hatte und nicht mehr sie selbst waren. Sie hatte einige davon gehört und gerne gehört, doch nun war sie offenbar mittendrin in einer. Sie konnte nicht schießen, sie hätte in jedem Falle getroffen auf diese Entfernung, doch etwas hielt sie zurück.
Wenn das Verdila war, konnte sie es nicht tun, unmöglich.
„Verdila?“
Das Wort kam heiser und hoch über ihre Lippen. Es war weniger eine Frage, denn ein Flehen.
Das Wesen gab einen tiefen Grolllaut von sich, rührte sich jedoch nicht weiter, abgesehen von einem Faden aus Speichel und Blut, der sich vom Maul herabseilte.
Ameley ließ dich Waffe weiter sinken, schickte ein Stoßgebet zum Licht, dass es sie beschützen möge, dass es noch eine Hoffnung gäbe und in diesem Wesen noch genug von ihrer Schwester stecken mochte, um diese zu erreichen.
Ohne, dass es Anzeichen einer Vorbereitung gab, sprang das Wesen plötzlich über den Kadaver hinweg und stürzte sich auf Ameley. Der erschrockene Aufschrei ging nahtlos in einen schmerzerfüllten über, als sich die Fangzähne in ihre Hüfte bohrten.
Von der schieren Wucht des Aufpralls zurückgeworfen, landete das Mädchen hart auf dem Boden, verlor ihre Bewaffnung, als sich Pfeil und Bogen ihrem Griff entwanden und sah den Schatten, der über ihr aufragte.
Sie schloss die Augen, überwältigt von Panik, Schmerzen und der Gewissheit, dass sie hier sterben würde, …
Die Gilneerin riss die Augen auf und griff instinktiv nach dem Messer an ihrem Gürtel, erfasste kaum den Griff, als sie auch schon ihrer Umgebung gewahr wurde. Der rumpelnde Karren, das vorbeiziehende Blätterdach, ihre schlafende Schwester neben sich und einem singenden Bauerntrampel auf dem Kutschbock.
Der Himmel über den Bäumen war ein wenig dunkler als zu ihrem letzten Wachmoment, weswegen sie vermutete, dass sie etwa eine Stunde geschlafen hatte.
Sie hob den Kopf und spähte über die Kornsäcke hinweg in die Gegend, konnte aber nur Bäume und Pfad ausmachen, die der Ochsenkarren zurückgelegt hatte.
Mit dem Gefühl, sie hätte die Strecke durch die Straßen von Gilneas tatsächlich zurückgelegt, anstatt zu schlafen, legte sie den Kopf wieder zurück und schloss nach einigem Blinzeln erneut die Augen.
Verdila war in dieser Nacht verschwunden und Ameley hatte sich, noch benommen von Schmerzen und Angst, in den Schlafraum der Schwestern geschliffen.
Sie hatte die Tür verriegelt und war vor ihrem Bett zusammengesunken, ihre Bettdecke auf die Bisswunde an ihrer rechten Hüfte gedrückt.
Der Biss hatte unvergleichlich geschmerzt, war jedoch nicht bis in tödliche Tiefen vorgedrungen, und nur eine schemenhafte Erinnerung angesichts dessen, was die nächsten Stunden ihren Körper heimgesucht hatte.
Das, was ihre Schwester an Symptomen vorgewiesen hatte, war nur ein Bruchteil dessen, was der Fluch, wie sie es heute nannten, durch ihre Glieder gejagt hatte.
Schmerzen und Fiebergefühle wechselten sich im Laufe der unzählbaren, zähen Stunden mit Panikattacken ab, während das unzuweisbare Gefühl von Wut immer wieder in ihr Bewusstsein drang.
Immer wieder versank sie in Träume.
Oder wachte sie?
Ein Schatten vor ihren Augen. Eine Hand, die nach ihr Griff, nur um sie wieder fallen zu lassen.
Schwärze, Schatten, Wut.
Sie würde sich wandeln, sie würde Menschen töten. Sie musste es verhindern.
Ihre Augen suchten im Fiebertraum das Zimmer ab. Schnell, tödlich, schmerzfrei. Irgendetwas musste es geben, um diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
Die Welt versank erneut in Schwärze und Schmerzen.
Sie würde sich diesem Alptraum nicht überlassen. Menschen töten oder sie infizieren, wie ihre Schwester es getan hatte. Sie war ein Mensch und kein Monster.
Dies sollte der letzte klare Gedanke sein, den Ameley Maceáls Geist zustande brachte, jeder weitere verschwand im Nebel und einem erdrückenden Gefühl.
Hunger.